Sag mir wo die Blumen sind
Unkraut. Für viele ein sehr negativ klingendes Wort. Allerdings ist Unkraut vielleicht nicht genau das, wofür wir es immer hielten. Ich möchte dich auf einen Spaziergang auf dem Land einladen. Vorbei an Getreidefeldern, über Feld und Flur. Lass uns dabei der Frage nachgehen, wofür Unkraut eigentlich da ist. Sind Unkräuter am Ende sogar wichtig für die Artenvielfalt? Und wie wichtig sind sie?
Ich wette, nur wenige von euch haben jemals ein Feld wie das Getreidefeld auf dem Bild gesehen. Selbst als aufmerksamer Beobachter der Ackerflächen um mich herum habe ich noch nie ein so buntes Getreidefeld gesehen, bis ich dieses an einer Versuchsstation meiner Fakultät sah. Auf diesem Feld wurden keine Herbizide angewandt, so dass das Unkraut im Sommer voll zum Blühen kommt. Vielleicht werden sich die älteren Menschen aus der Zeit, als sie noch jung waren, an solche blühenden Felder erinnern. Heute sind solche bunten Felder aber ein seltener Anblick geworden.
Obwohl diese Blumen außergewöhnlich schön anzusehen sind, ist dies keine Hommage an die guten alten Zeiten, als “alles besser war”. Dieser Text hat auch nicht die Absicht, alle Landwirte der Welt zu verurteilen, die Pestizide anwenden. Eigentlich geht es darum, eine Debatte über Blumen, Brot, Bienen und Biodiversität anzustoßen. Darüber, was es bedeutet, dass wir Kornblumen und Mohn nicht mehr um uns herum sehen.
Unerwünschte Unkräuter
Es besteht kein Zweifel, dass die blauen und roten Punkte im Getreidefeld auf dem Bild ein schöner Anblick sind. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um Unkraut handelt. Unkraut sind alle Pflanzen, die gemeinsam mit der Ackerkultur auf dem Feld wächst, ohne dass sie mit Absicht ausgesät wurden.
Diese fiesen Pflanzen können sehr schnell nach der Aussaat wachsen, die Ackerkultur überschatten und ihr damit Licht, Wasser und Nährstoffe “stehlen”. Wenn das Unkraut bis zur Ernte auf dem Feld bleibt, kann es eine ganze Reihe von Problemen verursachen. Zuerst verhakt es sich leicht im Mähdrescher, was die Ernte verlangsamt und komplizierter macht. Und die Rückstände der unerwünschten Pflanzen, wie Samen oder Blätter, müssen aus dem geernteten Material herausgefiltert werden, da sie sonst das Erntegut verderben können, indem sie es zu feucht oder schmutzig machen. In einigen Fällen kann Unkraut sogar giftig für Menschen oder Tiere sein, die die Ernte am Ende des Tages essen werden.
Kämpfen mit Unkräutern
Der größte Teil der Menschheitsgeschichte war die Geschichte des Kampfes mit Unkraut. Schon in den frühesten Kapiteln der jüdischen Tora wird Unkraut als Feind des Menschen erwähnt:
“Deinetwegen ist der Acker verflucht. Mit Mühsal wirst du dich davon ernähren, dein Leben lang. Dornen und Disteln (=Unkraut) werden dort wachsen, und du wirst die Pflanzen des Feldes essen.“ (1)
Landwirtschaft – “Agrarkultur” – bedeutet, dass wir eine Kulturpflanze auf einem Feld anbauen, was in der „Wildnis“ zutiefst unnatürlich ist. Es gibt immer eine Vielzahl von verschiedenen Arten, die in der Natur nebeneinander existieren. Die Natur greift in diese von Menschen gemachte Monotonie ein, indem sie Unkraut dazwischen wachsen lässt. Der Mensch hingegen versucht immer, diese „Eindringlinge“ loszuwerden.
Das Netz des Lebens
Aber warum sollte man sich überhaupt um Unkraut scheren? Warum nicht einfach das Unkraut loswerden, wenn wir die Möglichkeit dazu haben? Warum fragen, wo die Blumen sind?
In ihrem Buch Silent Spring schrieb Rachel Carson 1962:
“Die Vegetation der Erde ist Teil eines Lebensgeflechts, in dem es intime und wesentliche Beziehungen zwischen Pflanzen und Erde, zwischen Pflanzen und anderen Pflanzen, zwischen Pflanzen und Tieren gibt. Manchmal haben wir keine andere Wahl, als diese Beziehungen zu stören, aber wir sollten dies mit Vorsicht tun, im vollen Bewusstsein, dass das, was wir tun, zeitlich und räumlich versetzte Folgen haben kann. Doch keine solche Demut kennzeichnet das boomende “Unkrautvernichtungsmittel”-Geschäft der Gegenwart, in dem steigende Verkäufe und expandierende Nutzungen die Produktion von pflanzentötenden Chemikalien kennzeichnen.”
Mit messerscharfer Wahrheit beschrieb Rachel Carson eine Realität, der wir uns heute stellen müssen.
Welche Realität?
Der Preis der Artenvielfalt
Um dies zu verstehen, müssen wir noch einmal auf die Geschichte der Landwirtschaft – der “Agrarkultur” – zurückkommen. Die Geschichte der Menschen, die ihre Nahrung zum Leben anbauen, in die Natur eingreifen, um ihr eigenes Leben zu ermöglichen. Eine verständliche Motivation! Aber zu welchem Preis?
Vielfältige Ökosysteme mussten Monokulturen weichen, die intensiv mit chemischen Pestiziden bewirtschaftet wurden. Mit immer effizienteren, immer ausgeklügelteren Techniken hat sich der Mensch die ganze Natur unterworfen. Das ging soweit, dass wir bereit waren, jeden störenden Organismus, von Unkraut bis Schadinsekt, auszulöschen, der sich uns dabei in in den Weg stellen würde. Oder der dem Profit schaden würde. Das nennen wir unsere moderne industrialisierte Landwirtschaft.
Leider kam diese Art der industrialisierten Landwirtschaft nicht ohne ihre negativen Folgen. Genau die “zeitlich und räumlich versetzten Folgen“, von denen Rachel Carson vor mehr als 60 Jahren gesprochen hatte.
Synthetische Pestizide wurden im 20. Jahrhundert vermehrt hergestellt und angewandt. Landwirte und Regierungen begannen, sie nach dem zweiten Weltkrieg intensiv zu nutzen und verkündeten den lang ersehnten Sieg über Schädlinge aller Art – Insekten, Pilze, Unkraut. Und alles war gut…
Oder doch nicht?!
Sieg & Niederlage
Bald entstand ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Einige Insekten, Pilze und Unkräuter entwickelten eine Resistenz gegen die Chemikalien. Sogenannte “Super-Unkräuter” und andere Schädlinge blieben von den herabregnenden Pestiziden unberührt (was natürlich geschieht, wenn eine “Waffe”, in diesem Fall Unkrautvernichtungsmittel, zu intensiv eingesetzt wird). Wenn Schädlinge gegen eine Chemikalie resistent werden, wird das Pestizid nutzlos und wir sind in echten Schwierigkeiten. Denn jetzt haben wir Populationen von resistenten Schädlingen und eine “Waffe”, die unbrauchbar geworden ist! Und dieses Phänomen kommt in der Landwirtschaft heute immer häufiger vor.
Und dann stehen wir vor einer beängstigenden Frage: Was wäre, wenn der Feind, den wir mit unseren chemischen Waffen bekämpfen wollen, nicht das wäre, was wir glaubten? Oder wenn er am Ende gar kein Feind wäre?
So schädlich und ärgerlich Unkräuter für die Landwirte auch sind, sie spielen in der Tat eine wichtige Rolle in der Natur und in der Landwirtschaft. Gerade jetzt befinden wir uns an einem Wendepunkt. Wir entdecken die Bedeutung des Unkrauts wieder, während wir gleichzeitig die schrecklichen Folgen enthüllen, die ihre Ausrottung auf unserem Planeten hatte…
Warum also ist Unkraut wichtig?
Neudefinition von “Unkraut”
Zunächst füllt Unkraut die Leerstellen aus, die die Landwirte nach der Ernte oder bei der Aussaat hinterlassen. Unbedeckter Boden ist eine zutiefst unnatürliche Sache, sodass die Natur schnell versucht, den Boden wieder mit Pflanzen zu bedecken. Damit verhindert sie, dass kostbarer Oberboden, Nährstoffe und Wasser verloren gehen. Unkraut ist Pionierpflanze und Erosionsschutz.
Auch Menschen essen viele Unkrautpflanzen, oder haben sie früher regelmäßig gegessen! Ein Teil unserer Nahrungspflanzen würde es nicht einmal geben, wenn es Unkraut nicht gäbe. Nur ein Beispiel ist Rucola, eine beliebte, schmackhafte und gesunde Salatsorte, die früher als Unkraut galt!
Und wie alle Pflanzen sind auch Unkräuter ein Zuhause und eine Nahrungsquelle für eine Reihe von Tieren.
Denke zum Beispiel an Insekten, die blühendes Unkraut besuchen, oder an Vögel, die die Samen fressen.
Obdachlose Insekten… oder warum Unkräuter wichtig für die Artenvielfalt sind
Die 50 häufigsten Unkrautarten in Deutschland sind Nahrung und Zuhause von unglaublichen 5000 Insekten- und Vogelarten (die ich für meine Bachelorarbeit alle namentlich notiert habe)! Und es gibt viel mehr Arten, die von Unkräutern abhängig sind, als wir wissen, da möglicherweise nur ein Zehntel aller Insektenarten weltweit bis heute überhaupt beschrieben wurde.
Unkraut schadet also nicht nur. Es bietet eine Reihe von erstaunlichen Vorteilen für uns alle, einschließlich der Landwirte. So fanden Forscher heraus, dass die leuchtend blauen Kornblumen – die ebenfalls Unkräuter sind – speziell Schwebefliegen anziehen. Schwebfliegen sind wahre Freunde, da sie Pflanzen bestäuben und Blattläuse essen, gefürchtete Pflanzenschädlinge. Wenn Schwebfliegen und andere sogenannte natürliche Schädlingsfeinde (wie Marienkäfer) von Unkraut auf das Feld gelockt werden, fressen sie Blattläuse!*
Ein Feld ohne Unkraut, wie es die Norm geworden ist, wird nicht so viele dieser hilfsbereiten Freunde anziehen. Wenn außerdem Blattläuse mit einem Insektizid getötet werden, werden die Schwebefliegen und Marienkäfer gleich mit getötet. Damit geht uns ein genialer Mechanismus der Natur verloren, der als biologische Schädlingsbekämpfung bezeichnet wird.
Was wir verlieren, wenn wir das Unkraut verlieren
Das Problem ist, wir wissen nicht wirklich, was wir alles verlieren, wenn wir das Unkraut vernichten. So viele ausgeklügelte Mechanismen der Natur bleiben uns immer noch ein Rätsel. Aber was wir sicher wissen, ist, dass wir ein ernstes Problem mit dem weltweiten Verlust der biologischen Vielfalt haben.
Biodiversität, das ist die Vielfalt alles Lebens: Pflanzen, Tiere, Bakterien, Pilze, Menschen… im Grunde umfasst sie all die verschiedenen Formen und Arten von Lebewesen.
Das sechste Sterben
Der World Wide Fund for Nature International (WWF) stellte fest, dass wir zwischen 1970 und 2016 weltweit 60 % der Wildtiere verloren haben.
Bestäuber wie Bienen und Schwebefliegen sind weltweit im Rückgang. Mehr als ein Drittel aller Nahrungspflanzen sind von der Bestäubung durch Insekten abhängig. Und Tausende andere Bestäuber tragen dazu bei, den Ernteertrag zu steigern.
Ein Zusammenbruch der Feldvogelpopulationen ist seit Jahrzehnten zu beobachten. Und bereits vor über 100 Jahren fiel Menschen auf, dass es immer weniger Singvögel gibt!
Eine aktuelle Studie, die in einem Naturschutzgebiet in Deutschland durchgeführt wurde, ergab, dass in nur 27 Jahren sagenhafte 75-80% der Insekten verloren gegangen sind.
Falls du hoffst, dass es außerhalb Deutschlands vielleicht besser aussieht, muss ich dich enttäuschen. Von allen Enden des Planeten erreichen uns wissenschaftliche Studien über den besorgniserregenden Rückgang der biologischen Vielfalt.
Von Costa Rica bis Rumänien, vom Vereinigten Königreich bis Südafrika, die Artenvielfalt, und insbesondere die von Insekten und Vögeln, nimmt stark ab.
Sollte uns das überraschen? Leider nein. Denn wir müssten es eigentlich schon seit geraumer Zeit wissen.
Düstere Wahrheiten
Einfach gesagt brauchen Insekten (wie alle anderen Lebewesen auch) einen Ort zum Leben und Nahrung. Beides finden sie vor allem in Pflanzen. Und du hast es erraten, dazu gehört auch das, was wir Unkraut nennen.
Herbizide und eine reduzierte Fruchtfolge (unter anderem) haben Unkraut beinahe ausgerottet. Und das zu dem Punkt, dass die Artenvielfalt von Ackerunkräutern um 70 % reduziert wurde! Viele Unkrautarten, die früher sehr häufig waren, sind heute praktisch ausgestorben.
Wenn wir also die Existenzgrundlage für Insekten, Vögel usw. zerstören, ist es logisch, dass sie zusammen mit dem Unkraut verschwinden, von dem sie abhängig sind. Umso mehr, wenn man weiß, dass einige Insekten und Vögel speziell von einer einzigen Pflanze/Unkrautart abhängig sind! Wenn diese Unkrautart ausgestorben ist, wird auch das mit ihr in Symbiose lebende Tier unweigerlich ausgestorben.
Es ist Zeit, wie in dem berühmten Lied buchstäblich zu fragen:
Sag mir wo die Blumen sind?
Artenvielfalt erhält uns am Leben
In der Natur ist alles miteinander verbunden. Ohne Biodiversität, ohne dieses enge und vielfältige Netz des Lebens, das uns alle am Leben erhält, gäbe es auch uns nicht. Es wäre ein langsamer Tod, dem wir auf jeden Fall entkommen wollen.
Eine Studie aus dem Jahr 2020 stellt fest, dass die Zerstörung von Lebensräumen und die Intensivierung der Landwirtschaft (einschließlich des Einsatzes von Pestiziden) einige der Haupttreiber für den Insektenverlust sind. (2)
Aber bevor wir den Landwirten die ganze Schuld geben, sollten wir sorgfältig überlegen, was die Zerstörung von Lebensräumen wirklich bedeutet und wer die Intensivierung der Landwirtschaft antreibt. Ein potenzieller Lebensraum für Pflanzen, Insekten, Vögel etc., kann technisch überall auf dem Planeten sein. Einschließlich der Orte, wo wir leben, studieren, einkaufen gehen, Straßen und Parkplätze bauen… Und die intensivierte Landwirtschaft, das ist das billige Brot, das wir zum Frühstück hatten, oder das Biogas, das uns morgens zur Arbeit bringt.
Mit dem Zeigefinger aufeinander zu zeigen oder Schuld zuzuschieben wird uns nirgendwo hinbringen. Konzentrieren wir uns stattdessen auf Lösungen! So wie wir alle auf die eine oder andere Weise Teil des Problems sind, können wir auch alle Teil der Lösung werden!
Vom Problem zur Lösung
Diese globale Biodiversitätskrise beginnt mit den hübschen Kornblumen, die an einem herrlichen Sommertag im Wind schaukeln. Sie geht weiter im Schweiß und Geldbeutel des Bauern, der seine Ernte einbringt, um für seine Familie Essen auf den Tisch zu bringen.
Ein blutiges Spektakel am Himmel, und die Sonne geht über dem staubigen Feld unter, nur um an einem frischen Herbstmorgen wieder aufzugehen. Es ist Sonntagmorgen, und in Kirchen auf der ganzen Welt danken die Menschen für Gottes Schöpfung und die Landwirte, die unsere Nahrung anbauen. Wenn wir das frisch gebackene Brot brechen, das so schöne Kindheitserinnerungen aufbringt, erinnern wir uns daran, was das Leben für uns alle möglich macht.
Brot. Christus.
Kann das Brechen des Brotes, der Genuss dieser lebensspendenden Substanz, selber Leben spenden?
Was wir essen, wie wir essen,bestimmt, ob Leben in Zukunft auf unserem Planeten möglich sein wird oder nicht. Und nicht einfach irgendein Leben!
Das gute Leben, nach dem wir uns alle sehnen.
Was denkst Du: wie kann Veränderung beginnen? Wie können wir ein nachhaltiges Landwirtschaftssystem schaffen, in dem Artenvielfalt ihren berechtigten Platz hat?
Mehr über Artenvielfalt & Unkraut
Dieser Artikel ist größtenteils auf meiner Bachelorarbeit basiert. Klicke auf den Knopf unten um eine Zusammenfassung der Arbeit zu lesen:
Lese mehr über das Thema in meinen anderen Artikeln über Artenvielfalt & Landwirtschaft:
*Leider sind die Dinge nicht ganz so simpel. Während Schwebfliegen und Marienkäfer eine wunderbare Arbeit im Kampf gegen Blattläuse leisten, vor allem in einem Garten oder einer ähnlichen Umgebung, können sie nicht alle Blattläuse auf einmal verschlingen… Und ein großes Problem mit Blattläusen ist, dass sie Pflanzenviren übertragen, die nicht anders bekämpft werden können, außer indem man die Blattläuse vernichtet. Rechtfertigt der Preis der chemischen Insektenbekämpfung die ökologischen Folgen? Und wie würde ein ökologisch intaktes und widerstandsfähiges Agrarökosystem auf einen Angriff von Blattläusen/Viren reagieren? Fragen, auf die ich noch keine vollständige Antwort habe. Anregungen sind gerne gesehen!
(1) Die Bibel: 1. Mose 3, 17-18
(2) David L. Wagner: Insect Declines in the Anthropocene. Im Jahresrückblick der Entomologie 65, S. 457–480. DOI: 10.1146/annurev-ento-011019-025151
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